Dieser Artikel fiel mir kürzlich wieder in die Hände. Er wurde 1995 unter dem Titel 'Historien har inte börjat' für die schwedische satirische Zeitschrift 'Äcklet' (Der Ekel) geschrieben. Ich habe ihn ins Deutsche übertragen und lege ihn nun zu den Oldies. Oft sagten wir 'Schlimmer kann es doch nicht werden', aber es ist schlimmer geworden. Aber wenn ich das hier lese, dann denke ich, dass der Unterschied so groß auch wieder nicht ist.
Einar Schlereth
24. Oktober 1995
Es läßt sich streiten, ob dies ein guter Titel ist. Geschichte ist die Gesamtheit mensch1icher Entwicklung, menschlichen Wissens und mensch1icher Erkenntnis. Von allem haben wir reichlich. Die Frage ist, ob wir sie nutzen, ob wir der alten Forderung großer Denker und Sehriftstel1er nachkommen, aus der Geschichte zu lernen. Und die zweite Frage ist, ob die Geschichte nicht bald ein Ende nimmt.
Ich denke, daß wir aus der Geschichte nichts lernen, daß wir es auch niemals in der Vergangenheit getan haben. Wann hätten die Menschen jemals aus der Geschichte gelernt? Vielleicht bis zu einem gewissen Grad die Schweden und die Schweizer, weil sie es immerhin verstanden haben, sich seit ein paar hundert Jahren von dem allgemeinen Gemetzel fernzuhalten. Gesellschaftspolitisch hingegen haben sie so wenig wie nur irgendein anderes Volk gelernt. Sie stecken ebenso tief in der Scneiße wie alle anderen auch. Für die Feinen, die Anständigen und die Angepaßten ist es allerdings keine Scheiße, sondern der lang herbei gesehnte vollständige Sieg des Kapitalismus. Und tagtäglich schwärmen sie uns mit verdrehten Augen vor, wie wunderbar und vortrefflich ihr System sei, daß es auch keineswegs stinke, sondern nach Ambrosia dufte.
Nun ja, daß die Nutznießer des Systems so reden und denken, ist nicht weiter verwunder1ich. Aber daß auch die zahllosen Bettler in New York, von denen man eigentlich immer nur den Arsch sieht, weil sie bis über beide Ohren in den Mülltonnen hängen, um etwas Freßbares zu finden, laut Umfrage mehrheitlich mit dieser Auffassung übereinstimmen, finde ich niederschmetternd. Sie bewundern alle Milionäre ebenso wie die Mutti mit ihren drei Gören in Hamburg—Billstedt, deren Mann arbeitslos ist und die Sozialhilfe versäuft oder der kleine Beamte in seinem Wüstenrot-Häuschen. Aber auch die Jugendlichen, die niemals arbeitslos werden konnten, weil sie erst gar nie eine Arbeit bekommen haben, die finden diese ganze Scheiße ebenfalls superaffengeil, sie haben nur daran auszusetzen, daß sie an der glitzernden Kansumwelt keinen Anteil haben, weshalb sie ab und zu einen Opa um ein paar Mark willen messern müssen und mangels anderer Vergnügen Ausländer “klatschen“ gehen müssen.
Täuschen wir uns nicht - wir haben uns lange genug in die eigene Tasche gelogen; wir haben es mit einem breiten gesellschaftlichen Konsens zu tun. Und jene, die Oppostition betreiben, beruflich oder privat, denen geht es um ein paar Mark mehr, die maulen, weil sie nicht mehr alle zwei Jahre ein neues Auto kaufen können, weil ihre Kinder keine Chance haben, Manager zu werden, weil sie keine zwei Schnitzel am Tag mehr haben, weil ihr Fifi Schappi fressen muß.
Ach ja, die Grünen gibt es ja noch. Die erlebe ich tagtäglich in meiner Straße, die zu 30% bei den letzten Wahlen grün gewählt hat. Lehrer, Rechtsanwälte, Werbefritzen. Die sind für die Natuuur, für die Bäumchen und kleinen Vögelchen. Sie haben dicke Volvos, BMW's oder Alfas und als “Einkaufskorb" einen kleinen Lancia. Alle mit Kat natürlich. Die Muttis fahren ihre süßen Kinderchen - meistens ist es nur eins - im Volvo drei Straßen weiter in den Kindergarten und zwei Straßen weiter zum Einkäufen nehmen sie auch den Volvo, wenn sie noch keinen “Einkaufskorb” haben. In der Küche ist alles vom Feinsten und das Wohnzimmer ist natürlich ebenfalls mit high—tech vollgestopft. Rieseköter haben sie auch alle und die scheißen die Straße mit Köteln im Kiloformat zu. Aber grün sind sie, wie gesagt, und sie machen dir bittere Vorwürfe, weil du nicht die Grünen wählst. Mit einigen alten linken Freunden, die mittlerweile grün geworden sind, eskalierten Auseinandersetzungen über die Diskrepanz zwischen ihren Reden und ihrem Tun beinahe zum völligen Bruch.
Sage niemand, das habe nichts mit Geschichte zu tun. Alle diese Beispiele zeigen unsere Unfähigkeit, aus der Geschichte zu lernen. Unsere Unfähigkeit, eins und eins zusammenzuzählen oder die einfache Frage zu stellen: Cui bono? Wem nützt unser unsolidarisches Verhalten bis in die kleinsten Dinge des täglichen Lebens? Wem nützt der Haß auf den kleinen türkischen Gemüsehändler? Wem nützt die riesige und permanente Arbeitslosigkeit? Wem nützt der Hunger in der Welt? Wem nützt der aberwitzige Umgang mit der Natur? Wem nützt Verschwendung? Wem nützt es, daß tagtäglich Sand aus einer Ecke in die andere und wieder zurückgeschaufelt wird, will sagen, daß ein Strom völlig identischer Waren — Schreibmaschinen, Autos, Kleidung, Konserven — von Norden nach Süden und umgekehrt, von Osten nach Westen und umgekehrt fließt, was uns obendrein als ökonomisch sinnvolle Methode angepriesen wird? Wem nützt die Konzentration des Kapitals in immer weniger Händen? Wem nützt ein derart undemokratisches Gebilde wie die EU? Wem nützt es, wenn alle Jahre wieder die Gewerkschaften ein paar Prozent Lohnerhöhungen durchsetzen und über Steuern, Mieten, Zinsen uns doppelt so viel aus der Tasche gezogen wird? Alle diese Fragen werden nicht gestellt.
Der Bund der Steuerzahler stellt in seinem Jahresbericht fest, daß Länder und Gemeinden 26 Mrd. DM Steuergelder zum Fenster hinausgeworfen haben. Der Rechnungshof stellt fest, dass die Bundesregierung 20 Mrd. DM verschleudert hat. Die Presse rechnet vor, dass in den neuen Ländern 60 Mrd. DM in dunklen Kanälen verschwunden sind. Die Finanzämter geben zu, daß die Unternehmer bei ihnen mit 60 Mrd. DM verschuldet sind. Aber all dies hat niemals die geringsten Folgen. D.h. keine Folgen für die Verantwort1ichen, nur für die arbeitende Bevölkerung, die noch mehr Steuern bezahlen darf, um die größten Finanzlöcher zu stopfen.
Und wie können wir erwarten, daß die Menschen, die schon nicht die alltägliche Geschichte oder Geschichte des Alltags begreifen, die sie doch unmittelbar betrifft, daß sie die größeren geschichtlichen Zusammenhänge begreifen? Diese Fähigkeit erfordert eingehende Studien, erfordert die Kunst, zwischen den Zeilen lesen zu können, erfordert die Fertigkeit, mehrere Sprachen zu können, um Presse und Bücher anderer Länder lesen zu können, weil wir von den Medien mit Bedacht und systematisch belogen werden.
Wieviele Menschen vereinen alle diese Fähigkeiten? Sehr wenige, und diesen Wenigen fehlt zumeist die Gabe, ihre Kenntnisse in einer Form weiterzugeben, die für normale Sterbliche begreifbar ist, abgesehen davon, daß sie sie meist nicht publikumswirksam verbreiten können. Und gelingt es in unserer Mediendiktatur gelegentlich einem Einzelnen, die Wahrheit zu sagen, dann stehen garantiert eine halbe Stunde später ein paar seriöse Herren - vorzugsweise Professoren - auf der Matte und behaupten mit Würde und großem Ernst und "wissenschaftlichen Argumenten' das genaue Gegenteil. Spätestens dann sagt Otto Normalverbraucher, der sich die Mühe gemacht hat, beiden Parteien zuzuhören, 'Ihr könnt mir alle mal den Buckel hinunterrutschen'.
Die zweite Frage: Ist Geschichte nicht bald am Ende? Wir wissen:
Die Wälder der Welt werden im rasenden Tempo abgeholzt, überall stehen Atomreaktoren, die ein zweites und drittes Tschernobyl zu einer Frage der Zeit werden lassen. Das Ozonloch breitet sich unaufhaltsam aus und läßt die Krebserkrankungen arithmetisch ansteigen. Mit dem Krebs breiten sich Aids und immer neue Seuchen gnadenlos aus. Die Polkappen schmelzen schneller, als die Experten annahmen. Drogenmissbrauch wächst und wächst. Die Krankheiten unter jungen Menschen - von schweren Haltungsschäden bis hin zu Seh- und Hörfehlern - nehmen rapide zu. Die Zeugungs- und Gebärfähigkeit nehmen rapide ab. Die Vernichtung jahrtausendealten Gen-Materials geht mit Riesenschritten voran, ebenso die Gen—Manipulation. Die Qualität der Nahrungsmittel sinkt ständig. Die Verarmung der großen Mehrheit der Weltbevölkerung nimmt lawinenförmig zu. Der giftige Müll auf der Erde, im Wasser, in der Luft und der Stratosphäre wird immer unüberschaubarer.
Das alles wissen wir und spätestens seit Marx wissen wir auch, was dagegen zu tun wäre. Aber wir wursteln weiter wie eh und je. Mehr noch. Mit geradezu infernalischer Besessenheit tut jeder sein Äußerstes, um die Gesamtsituation noch zu verschlimmern, „weil die Welt sowieso im Arsch ist". Wenn die Behörden Ozonalarm geben, dann wird erst Recht Auto gefahren und noch mehr aufs Gas getreten. Der riesige Stadtpark in Hamburg verwandelt sich an jedem Wochenende in eine gigantische Müllkippe. Hier und in Schweden habe ich beobachtet, wie Kinder Plastikflaschen und Bierdosen ins Schwimmbecken werfen - unter den unbeteiligten Blicken Erwachsener. Es wird ständig mehr in der Welt herumgeflogen, obwohl Flugzeuge zu den Hauptverursachern der Luftverschmutzung und Zerstörung der Ozonschicht gehören. Zu Tausenden werden Menschen auf den Straßen massakriert, aber Tötung im Verkehr gilt nach wie vor als Kavaliersdelikt. Das Quälen von Tieren und Mißbrauch von Kindern wird immer mehr zum Sport. Brutalität, Rücksichtslosigkeit, Unhöf1ichkeit und Rüpeleien breiten sich wie ein Ölteppich auf
dem Wasser aus.
Ich begreife wahrhaftig nicht, wie irgendjemand in dieser Lage noch einen Funken Optimismus aufbringen kann. Zumal Bequemlichkeit, laissez—al1er—Mentalität, Duckmäusertum und Feigheit immer mehr zum guten Ton gehören. Es würgt einen der Ekel. Und Max Liebermann hatte Recht: Man kann unmöglich so viel fressen, wie man kotzen möchte.
Dennoch: Starrsinnig wie ich bin, höre ich nicht auf, diese meine Welt zu lieben und
von einer Gesellschaft zu träumen, die endlich vom Kopf auf die Füsse gestellt wird. Um die alte Geschichte zu streichen und die Geschichte neu zu beginnen.
Hier will ich einen Teil meiner Programme vom NDR aus der Steinzeit (vor der Digitalisierung) auflegen. Einige habe ich übersetzt, die hier in Schweden großen Anklang fanden. Viele Freunde haben mich auch immer wieder gedrängt, sie zu veröffentlichen. Außerdem werde ich auch Lesefrüchte weiterreichen (wie diesen ersten Post mit einem Text von Friedrich Engels), die ich für wichtig halte.
Montag, 21. Oktober 2013
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