NDR-Sendung 1992
von
Einar Schlereth
MUSIK
Zitator: Les
ennemis les plus grandes des minorités sont les minorités. Die
größten Feinde der Minoritäten sind die Minoritäten.
Autor: Das
sagte mir der alte Pastor Jakob Michael in dem idyllischen Sagogn, zu
deutsch Sagens im Vorderrheintal. Und das entsprach genau dem
Eindruck, den ich nach einem halben dutzend Interviews mit
Rätoromanen an verschiedenen Orten hatte. Anders drückte es der
Verlagschef Henny vom größten rätoromanischen Verlag in Disentis
aus, ein halber Rätoromane, der aber in rein deutscher Umgebung
aufgewachsen ist:
0-Ton: Wenn
sich die Rätoromanen jetzt nicht einigen, dann geht natürlich der
Zerfall noch rascher.
Autor: Jeder
Außenstehende, der erfährt, daß es insgesamt nur 51 000
Rätoromanen gibt, die aber fünf Haupt - und Schriftsprachen
sprechen, die wiederum sehr ungleichmäßig verteilt sind, kann
diesem Stoßseufzer nur zustimmen. Und doch wird jeder Außenstehende,
der sich etwas tiefer mit der ganzen Problematik beschäftigt,
zugeben müssen, daß das viel leichter gesagt als getan ist.
Rechtsanwalt Ruedi Viletta hatte eine geradezu diebische Freude an
meiner Ratlosigkeit:
0-Ton: Ich
sehe, daß ich sie richtig unsicher gemacht habe, das freut mich.
Autor: Ich
glaube nicht, daß Unsicherheit der Sache dient, aber wenn Ruedi
Viletta die Befürchtung hat, daß ich mit apodiktischen Urteilen um
mich werfen möchte, so kann ich ihn beruhigen. Das beabsichtige ich
keineswegs, sondern ich will nur versuchen, die Problematik der
Rätoromanen so darzustellen, daß eben auch ein Außenstehender sie
verstehen kann. Dazu muß man zuallererst einen Blick in die
Geschichte werfen.
Zitator: Das
Volk der Räter, eine Mischrasse von Liguriern, Veneto-Illyriern,
Kelten und Etruskern, bewohnte das Gebiet zwischen Bodensee und
Comersee, Gotthard und Brenner. Von der Ursprache der Rätoromanen
weiß man nur, daß weder Etruskisch noch Keltisch, jedoch beiden
Sprachen verwandt war.
Im
Jahr 15 u.Z. erobern die Römer unter Drusus und Tiberius Rätien, um
die Pässe in ihre Hand zu bekommen, über die ihre
Verbindungeslinien nach Germanien liefen. Das Volkslatein breitet
sich in Rätien aus und verbindet sich mit den bestehenden
vorrömischen Sprachen, die durch lautliche Wandlungen und
sprachliche Differenzierungen zu den heutigen rätoromanischen
Sprachen geformt werden.
Autor: Eine
mögliche Quelle der Verwirrung möchte ich gleich zu Anfang
ausschalten. Es gibt auch noch rätoromanische Sprachen in Italien,
und zwar das Ladinische in Süd-Tirol, das von ca. 20 000 Leuten
gesprochen wird und das Friaulische, das nördlich und westlich von
Triest von ca. 500 000 Menschen gesprochen wird. Das Friaulische wird
bis heute offiziell überhaupt nicht zur Kenntnis genommen, während
den Ladinern mittlerweile bestimmte Rechte zugestanden wurden. Beide
Sprachen sind jedoch von den rätoromansichen Sprachen in der Schweiz
so weit entfernt, daß man sich unmöglich verständigen kann,
weshalb die Kontakte selten sind und höchstens offizielle Art.
Zitator: Gleich
zu Beginn ihrer Eroberungen legten die Römer am Zusammenfluß von
Vorder- und Hinterrhein ein Kastell an, woraus Chur wurde, die
älteste Stadt der Schweiz. Bei ihrem weiteren Vorstoß nach Norden
teilen die Römer dann Rätien in zwei Provinzen ein: Rätia prima
mit Chur als Hauptstadt und Rätia Secunda, wozu Tirol und die
bayrisch-schwäbische Hochebene gehörten. Im 5. Jahrhundert erobern
die Bajuwaren die Rätia Secunda. Und bis zum 6. Jahrhundert sind
beide Territorien romanisiert und christianisiert.
Doch
ab Mitte des 6. Jahrhunderts beginnt mit dem Anschluß von Rätia
prima an das Frankenreich die politische, wirtschaftliche und
kulturelle Ausrichtung nach Norden, die bis heute andauert. Diese
Tatsache wird durch die Abtrennung des Bistums Chur von Mailand und
dem Anschluß an das Erzbistum Mainz unter Karl d. Gr. verstärkt,
auch wenn der Mainzer Erzbischof dekretiert, daß der Gottesdienst in
der lokalen Sprache gehalten werden muß.
Autor: Im
13. und 14. Jhrh. besiedeln die deutschsprachigen Walser aus dem
Wallis die hochgelegenen und menschenleeren Gebiete Graubündens. Sie
bilden bis heute Sprachinseln im rätoromanischen Gebiet, was die
Sprachensituation zusätzlich verwirrt. Um dieselbe Zeit werden zur
Sicherung der Unabhängigkeit und gegen Habsburg der Gotteshausbund,
der Graue Bund und der Zehngerichtebund geschlossen und die
Entwicklung zur Demokratie eingeleitet.
Im
15. Jhrh. kommt es zu einer Katastrophe, die langfristig gesehen der
schwerste Schlag für die rätoromanische Sprache gewesen ist: Chur,
die Hauptstadt Graubündens brennt fast vollständig nieder.
Zitator:
Zum Wiederaufbau werden zahlreiche alemannische Handwerker
herbeigezogen, die sich nach getaner Arbeit in Chur ansiedeln und
Chur zu einer deutschen Stadt machen. Dadurch verliert Graubünden
sein sprachlich-kulturelles Zentrum.
Autor: Durch
die Reformation werden auch die Rätoromanen von Glaubenskämpfen
erfaßt, und die verschiedenen Religionen wetteifern miteinander,
Katechismen und Traktate in den verschiedenen Sprachen zu drucken. Da
ist es wieder: Die verschiedenen Sprachen. Das bedarf nun doch jetzt
schon der Erläuterung. Dazu muß man sich die geographische und
topographische Situation Graubündens vergegenwärtigen. Dieser
größte Kanton der Schweiz besteht aus 150 Tälern, deren größte
vom Vorderrhein, dem Hinterrhein und dem Inn gebildet werden, und die
jeweils auf drei Seiten von sehr hohen Bergen eingeschlossen werden.
Die Kommunikation zur Außenwelt erfolgte daher in der Regel auf der
offenen Seite, d.h. entweder nach Norden oder nach Süden, zumal
jahrtausendelang die Berge für die Menschen furchteinflößend
waren.
Zitator: In
Graubünden entwickelten sich fünf Hauptsprachen, die auch
schriftlich niedergelegt wurden: Im Vorderrheintal das Sursilvan, im
Tal des Hinterrhein das Sutsilvan, auf der Linie
Tiefencastel-Savognin das Surmiran, auf der Linie Davos-St. Moritz
das Puter und im Unterengadin und im Münstertal das Vallader.
Autor: Damit
nicht genug. Denn im Grunde ist es so, daß jedes Tal, ja jedes Dorf
seine eigene Sprache, seinen eigenen Dialekt spricht - und
eifersüchtig darüber wacht. Der Autor Werner Catrina hat in seinem
Buch `Die Rätoromanen zwischen Resignation und Aufbruch' eine ganze
Reihe hübscher Anekdoten angeführt:
Zitator: Anna
Capadrutt zeigte sich bitter enttäuscht, als die in den 40-er Jahren
geschaffene sutselvische Schriftsprache so wenige charakteristische
Elemente der Mundart aus ihrem Dorf Präz enthielt. Unter dem
Stichwort "Mutter" steht die Vokabel "mama",
während man in Präz "moma" sagt. Und weil ihre im Präzer
Dialekt verfaßten Artikel von der Zeitung "La Punt" immer
korrigiert werden, arbeitet sie nur noch "fürs Radio. Da kann
niemand an meiner Sprache rumkorrigieren."
Autor: Oder
ein anderes Beispiel:
Zitator: Frag'
Domenica.
Autor: Nein,
nein, es wird nicht jugendgefährdend.
Zitator: `Dumanda
a Domenica' ist fast ein geflügeltes Wort im Oberengadin. Domenica
ist der rettende Ausweg, der immer dann beschritten wird, wenn
Einheimische mit ihrem Puter Probleme haben. Sie ist die sprachliche
Autorität im gefährdeten Gebiet von St. Moritz. Eine Fanatikerin
nennen sie die einen, während andere ihren Namen fast erfurchtsvoll
aussprechen.
Autor: Viele
Beispiele ließen sich für die wunderliche Weise anführen, mit der
sich Rätoromanen abgrenzen, nicht gegenüber dem übermächtigen
Deutschen, sondern gegenüber dem nächsten Dorf und dem Nachbartal
und die übrigen vier Hauptsprachen. Doch kehren wir erst noch einmal
zur Geschichte zurück. Wir sahen, wie durch die Glaubenskämpfe
mehrere Schriftsprachen entstanden. Der Gegensatz zwischen altem und
neuem Glauben machte jahrhundertelang jede Zusammenarbeit unmöglich.
Zitator:
Im 17. Jhrh. wird Graubünden in den Dreißigjährigen Krieg
hineingezogen, wobei das Land mehrmals sowohl von französischen als
auch österreichischen Truppen verwüstet wird. Jörg Jenatsch, dem
von Conrad Ferdinand Meyer ein literarisches Denkmal gesetz wurde,
gelang es, die Unabhängigkeit Graubündens wiederherzustellen. Zum
vorläufig letzten Krieg in Graubünden kam es in der Napoleonischen
Zeit. Besonders bestialisch wüteten wieder einmal die Österreicher,
die alten Feinde aller freien Bauern in den Alpen.
Autor: Wie
lebendig heute noch die Erinnerung an jene Zeit ist, zeigte sich, als
ich von Ruedi Viletta in seinem wunderschönen Haus in Giarsun zu
einem Interview mit den Worten empfangen wurde: Ja, die Österreicher
hatten wohl keine Zeit mehr, bei ihrem Rückzug auch dieses Haus
anzuzünden.
Zitator: 1799
werden die drei Bünde als Kanton Rätien Teil der Helvetischen
Republik. Unter dem Namen Graubünden schließen sich die Rätoromanen
1814 definitiv der Eidgenossenschaft an.
MUSIK
Autor: Graubünden
ist eine Landschaft der Superlative. Es ist der größte Kanton der
Schweiz mit der geringsten Bevölkerungsdichte. Es beherbergt mit
Chur sowohl die älteste Stadt der Schweiz, die auf eine 2000 Jahre
alte Geschichte zurückblicken kann, als auch das höchstgelegene,
ganzjährig bewohnte Dorf Europas: Juf in 2126 m Höhe. In seinen
Grenzen wachsen Edelweiß, Zirbelkiefer und - Palmen. Und im Dorf
Zillis gibt es eine romanische Kirche mit der ältesten figürlich
bemalten Holzdecke der abendländischen Kunst von 1160.
Doch
vor allem ist Graubünden eben eine bezaubernde, ungemein
kontrastreiche und alte Kultur-Landschaft. Was diese Kulturlandschaft
von anderen unterscheidet, das ist nicht die Landwirtschaft, die ja
unter ähnlichen Bedingungen ähnlich funktioniert, sondern vor allem
die Architektur. Das Engadinerhaus etwa wird von Kulturhistorikern
als die originellste architektonische Schöpfung Graubündens
bezeichnet. Ihre wuchtigen Häuser, die Wohnteil und Stallungen
unter einem Dach bergen, erinnern am ehesten an die Häuser eines
anderen Bergvolkes, nämlich die Basken. Tonio Walz schreibt in einem
Bericht mit dem Titel "Bauernpaläste":
Zitator: Die
Engadiner Dörfer sind romanische Siedlungen - dicht gedrängt,
geschlossen und geprägt vom romanischen Charakterzug zur
Gemeinsamkeit, Geselligkeit. Keinem Engadiner Bauern wäre es früher
eingefallen, auf einem Einzelhof außerhalb des Dorfes zu leben.
Autor: Doch
auch hier hat der sogenannte Fortschritt gravierende Veränderungen
hervorgerufen. Werner Catrina bemerkt dazu:
Zitator: Die
sgrafittogeschmückten "Bauernpaläste" eignen sich
schlecht für die moderne Landwirtschaft. In den Sulčr, den Gang,
welcher durch das Hausportal zum Heuboden führt, passen weder
Traktor noch Ladewagen. Weil die Häuser zum Schutz gegen eisige
Winterkälte Mauer an Mauer stehen, läßt sich meist auch kein
anderes Tor herausbrechen. Wer heute rationell wirtschaften will, muß
einen Stall am Dorfrand bauen oder einen neuen Hof am Dorfrand bauen,
weit weg vom Ortskern. Was sein Vorfahre nie getan hätte, ist für
den modernen Bergbauern eine existentielle Notwendigkeit.
Autor: Neben
der Architektur sind es die Menschen selbst und ihre Sprache, die
einer Landschaft ihr Gepräge geben. Ich muß sagen, daß ich die von
Herzen kommende Freundlichkeit der Romanen im Unterengadin als
äußerst angenehm empfunden habe und daß mir ihr Gruß `Allegra' -
Freude - immer wie Musik in den Ohren klingt. Doch gerade ihre
schöne, wohlklingende Sprache ist der Hebel, mit dessen Hilfe die
Identität der Rätoromanen zerstört wird. Ihre winzige Minderheit
von 51 000 Personen wird langsam, aber sicher zwischen den
Mahlsteinen zweier großer Kultursprachen zerrieben - dem Schweizer
Tüütsch im Norden einerseits mit seinem gewaltigen Hinterland
Österreich und Deutschland und der italienischen Sprache im Südteil
des Kantons mit Italien als Hinterland. In Chur traf ich im Gebäude
der `Lia Romantscha' - der Zusammenschluß aller romanischen
Sprachorganisationen - mit dem Linguisten Gian Peder Grigori
zusammen, um mit ihm über dieses Problem der sprachlichen Erosion zu
sprechen.
0-Ton: (54)
Im Prinzip sind wir 2-sprachig, die Rätoromanen also jetzt. Also
auch in einem Dorf, wo romanisch ganz klar die Mehrheit ist, wo das
öffentliche Leben romanisch abläuft, ist der Kontakt der kleinen
Kinder, z.B. über das Fernsehen, sehr früh hergestellt mit dem
Deutschen. Das Fernsehen, als aggressives Medium hat sicherlich eine
wesentliche Funktion - man hört z.B. kleine Kinder, die Werbespots
auswendig können und die kommen natürlich deutsch, die gibt es auf
romanisch nicht.
Wir
haben 50 000 romanisch Sprechende, Muttersprach-Sprecher, d.h. Leute,
die 1980 romanisch als Muttersprache angegeben haben. Und die sind
natürlich verteilt - die leben nicht alle in Graubünden erstens,
und nicht einmal alle im traditionellen Sprachgebiet, dort leben etwa
32000 Rätoromanen und der Rest lebt entweder im deutsch-sprachigen
Teil Graubündens oder im Rest der Schweiz.
Autor:
Wie sieht die Schulsituation aus?
0-Ton: Die
Schulsituation ist natürlich entscheidend für das Überleben einer
Sprache. In der Schweiz besteht ein sehr großer Föderalismus in
Sachen Schule. Die Kantone haben die Schulhoheit und der Kanton
delegiert weitere Aspekte der Schulhoheit nach unten. In Graubünden
haben wir im Prinzip 3-4 Schulmodelle, je nach Sprachregion. Im
Stammgebiet haben wir eine romanische Grundschule, d.h. die Kinder
werden romanisch eingeschult. Also die ersten drei Jahre der
Grundschule plus der Kindergarten, der vorausgeht, ist alles
romanisch. Also auch im Oberengadin, wo die Kinder mehrheitlich
deutsch oder italienisch sind, müssen die Kinder eine komplett
romanische Grundschule besuchen. Und ohne einen Kindergarten, der
hier sprachliche Vorarbeit leistet, wäre das nicht möglich. Ich muß
dazu sagen, daß das funktioniert. Das Modell geht weiter. In der 4.
Klasse setzt der Deutschunterricht ein. Zuerst als Sprachunterricht.
Je weiter der Unterricht fortschreitet wächst die Quantität des
Deutschunterrichtes und das Romanische nimmt ab. Das geht bis Ende
der 6. Klasse. Dann ist bei uns ein Stufenwechsel in die
Sekundarstufe und dort geht das Romanische noch weiter zurück und
wird zum Fach plus ein Fach, Biologie, das in Romanisch vermittelt
wird, der ganze Rest ist dann Deutsch.
In
rein deutschen Gebieten haben wir den deutschen Schultypus, der dem
Typus der Deutschschweiz entspricht. In den italienischen Gebieten
haben wir eine italienische Schule, wo das Deutsche als
Fremdsprachenunterricht in der 4. u. 5. Klasse einsetzt. Und dann
kommt das Sprachmischgebiet, könnte man sagen, ein GEbiet, das
ursprünglich rätoromanisch war, heute aber deutschsprachig ist.
Diese Gemeinden sind laufend von einem romanischen System zu einem
deutschsprachigen Schulsystem übergegangen. Und das liegt in der
Kompetenz der Gemeinde. Die können mittels Abstimmung das
Schulsystem wechseln.
Autor:
Genau dies ist ein hartnäckig umstrittener Punkt. RA Ruedi Viletta
hat sich mit dieser Frage in Wort und Schrift befaßt. Auf meine
Frage, ob die Gemeinde das Schulsystem wechseln kann, meint er:
0-Ton: Wenn
Sie mit `kann' eine rechtliche Situation erfragen möchten, dann muß
ich nein sagen, wenn Sie aber sagen, sie tut es, dann muß ich ja
sagen. Da gibt es einen Ideenstreit darüber. Ich habe darüber
publiziert und ich vertrete die Meinung, daß das unrechtlich ist.
Wenn eine Gemeinde, gestützt auf ihre sogenannte Autonomie, bestimmt
über die Unterrichtsprache.
Autor: In
der Schweiz gilt in der Sprachenfrage nicht das Personalprinzip,
sondern das Territorialprinzip. D.h. jede Sprache besitzt ein fest
umrissenes Stammgebiet, in dem die jeweilige Sprache sozusagen
alleinherrschend ist. Ruedi Viletta erklärt mir anhand vieler
Beispiele, daß dieses Prinzip, das gerade wieder vom Ständerat
bekräftigt worden ist, für die deutsche, französische und
italienische Sprache respektiert wird, aber gerade im Fall der
rätoromanischen Sprache, die nach Aussage aller Experten in ihrem
Bestand gefährdet ist, dauernd durchlöchert wird. Und dies, obwohl
es einen berühmten Präzedenzfall samt höchstrichterlichem Beschluß
gibt:
0-Ton: Da
ging es z.B. um die französischsprachige Schule in Zürich, eine
private Schule, mehr oder weniger ursprünglich Diplomatenkinder. Und
um diese Schule zu führen, braucht es eine Bewilligung der Zürcher
Behörden, und die Zürcher Behörden haben gesagt nein. Anwendung
des Territorialitätsprinzipds: Zürich ist deutschsprachig, da gibt
es keine französischsprachigen Schulen. Und ich unterstreiche,
private Schulen! Das darf es einfach nicht geben. Und das
Bundesgericht hat es geschützt und hat gesagt, die Zürcher Behörden
haben Recht. Das ist das schweizerische Rechtssystem, die Staatsidee,
die das vorschreibt. Und dieses Urteil des schweizerischen
Bundesgerichtes bildete die Grundlage für die Schlichtung des
belgischen Sprachenstreites 1968 vor dem Menschenrechtsgerichtshof.
Und diese Idee des territorialen Schutzes der Sprache hat auch
Eingang gefunden in alle entscheidenden Dokumente der Volksgruppen
oder Minderheiten Europas.
Autor: Es
ist schon merkwürdig, daß die Schweizer, die sich so viel auf ihre
Vielsprachigkeit zugutehalen, die auch bei allen Umfragen große
Sympathien für das Rätoromanische bekunden, in der Praxis ihre
vierte Landessprache derart stiefmütterlich behandeln. Aber
vielleicht ist es doch nicht so merkwürdig, wenn man bedenkt, daß
gute Worte halt nichts kosten, während man für die Umsetzung der
Gleichberechtigung viele Franken springen lassen müßte, und da
werden die Schweizer halt ungemütlich. Das sieht auch Viletta als
den springenden Punkt:
0-Ton:
Natürlich kostet es. Es ist sehr viel einfacher (S. B. ca.650),
wenn man nur eine Sprache zu verwanden hat, das ist
selbstverständlich. Die Schulbücher, die Formulare nur in einer
Sprache, alles nur einsprachig, das ist billiger.
Autor: Ruedi
Viletta erzählt auch verschiedene Episoden aus seiner Zeit als
Abgeordneter im Kantonsrat, die sehr unerquicklich sind, wie etwa der
Auszug deutscher Abgeordneter, sobald er auf romanisch das Wort
ergriff. Annette Pietsch, ein engagierte Romanin in Bern, drückt
sich sehr deutlich aus:
0-Ton: Das
Romanische wird in vielen Kreisen immer noch als etwas Rückständiges
angeschaut. Es ist schon eine Diskriminierung der Bergbevölkerung.
Autor: Das
Wort Diskriminierung möchte Gian Grigori nicht direkt benutzen. Er
meint:
0-Ton: Die
Diskrimierung ist nicht offensichtlich, sie ist ein bißchen
versteckter. Der Druck auf die Minderheit ist nicht nur da, weil es
eine Minderheit ist, sondern weil sie die Sprachlast trägt. Für
mich ist es eine ganz typisch pragmatische Haltung, die da zum
Vorschein kommt und die meiner Ansicht nach doch verwurzelt ist bei
den Romanen. Weil sie schon lange 2-sprachig sind, entwickeln sie
eine riesige Anpassungsbereitschaft.
Autor: Diese
Anpassungsbereitschaft
ist es auch, die den Rätoromanen von ihren eigenen Leuten immer
wieder zum Vorwurf gemacht wird. Allerdings darf man nicht vergessen,
daß dies das Resultat eines starken Anpassungsdrucks
ist, der von der deutschsprachigen Bevölkerung ausgeübt wurde. Das
schlug sich auch in Sprüchen nieder, wie etwa: Mit dem Rätoromanisch
kannst du nicht einmal eine Kuh in der Stadt verkaufen. Und dieser
Druck führte dann im vorigen Jahrhundert so weit, daß
Zitator: die
Bündner Bauern ihre Kinder zu hunderten während der Schulferien
nach Süddeutschland schickten, damit sie gut deutsch lernten.
Autor: Mit
der Erschließung des Kantons für den Tourismus verstärkte sich der
Druck auf die einheimische Bevölkerung, deutsch zu lernen, da das
größte Kontingent der Touristen seit eh und je aus der
deutschsprachigen Schweiz und Deutschland kam. Doch jedem Spanier,
Franzosen oder Engländer käme die Idee absurd vor, deutsch zu
lernen, nur weil ein paar Millionen Deutsche als Touristen ins Land
kommen. Gewiß, aber an diesem Beispiel wird auch klar, daß es eine
Frage der Quantität ist. Die Romanen sind halt insgesamt nicht mehr
Menschen, als in irgendeiner europäischen kleinen Kleinstadt Platz
finden.
Unter
diesen Umständen wäre der Handlungsbedarf der Regierung umso größer
gewesen. Eine bequeme Ausrede der Regierung und Behörden für ihre
Untätigkeit war stets die Tatsache, daß es 5 romanische
geschriebene Sprachen gibt und die Rätoromanen sich nicht auf eine
einzige einigen konnten. Mittlerweile gibt es eine gemeinsame
Schriftsprache und ich frage Gian Grigori, ob es sich hierbei um eine
Art Esperanto handle:
0-Ton: (437)
Innerhalb der Sprachplanung war ein Aspekt, man muß die Präsenz
einer Sprache, um sie zu erhalten, im öffentlichen Leben erhöhen.
Mit einer einheitlichen Schriftsprache.
Jetzt
die Frage: Ist das ein Esperanto? Kurz ein paar Worte zur
Konstruktion dieser Schriftsprache. Das Konzept ist entwickelt worden
von einem Romanistikprofessor in Zürich, und er hat im Prinzip die
beiden großen Schriftvarianten unter den 5, die wir haben, genommen,
die stehen auch sprachlich am weitesten auseinander, hat die
mittlere, die Brückenvariante aus dem Sutmiran genommen, und hat die
verglichen und hat im Prinzip ein Mehrheitsprinzip entwickelt. Also
das Romantsch Grischun ist so zusammengesetzt, daß man sie aus
bestehendem Material formt, wie es am meisten gesprochen und
geschrieben wird in den verschiedenen Idiomen. Wenn also in zwei
Idiomen etwas so geschrieben wird und in einem weiteren anders, dann
schreibt man im Romantsch Grischun so, wie es die zwei schreiben. Es
ist eine konstruierte Sprache. Es ist aber keine Kunstsprache, weil
sie zu 98 % auf bestehendem Materal fußt.
Autor: Auch
wenn nun von Regierung, Post, Bahn etc. diese Sprache in starkem Maße
verwendet wird, hält sich doch die Akzeptanz bei den Rätoromanen in
Grenzen. Z.B. gibt es keine Schriftsteller, die sie benutzen. Für
Verlagschef Henny in Disentis ist die Situation nach wie vor
chaotisch:
0-Ton: Dann
ist es einfach so, daß der normale Bürger aus dem Engadin, der
rätoromanisch spricht, der liest kein Buch im oberländisch
geschrieben.
Autor: D.h.
alle Bücher in einem bestimmten Idion wenden sich nur an die Leute,
die es auch sprechen. Und wie hoch sind die Auflagen?
0-Ton: Bei
Gedichtbänden z.B. kann das variieren zwischen 500 bis etwa 1000.
Dann bei Belletristik, da kommt's drauf an, was für ein Autor, und
da schwanken die Zahlen von 1200 bis 2000, vielleicht einmal
höchstens auf 2200 Expl. nur für Oberländerromanisch. (680)
Autor: Auch
das eine oder andere Werk auf sutselvisch wird noch gedruckt,
erscheint aber nicht im eigenen Verlag. Für die übrigen drei
Sprachgruppen gibt es so gut wie keine Publikationen, weil sie
definitiv zu klein sind. Zur aktuellen Situation der Sprache meint
Herr Henny:
0-Ton: Die
Situation, also wenn Sie mich fragen, sehe ich sie eher
pessimistisch. Wenn man die ganze Entwicklung anschaut in Sachen
Sprache in den einzelnen Gemeinden, so ist die Entwicklung in meinen
Augen verheerend. Ich sehe nicht, daß man hier Einhalt gebieten
kann, sondern die Entwicklung wird weitergehen. Ich glaube, daß wir
so in 20 - 30 Jahren nicht mehr viele Gemeinden haben, die noch mehr
oder weniger vollständig romanisch sprechen. Und nun kommt das noch
dazu, daß die Rätoromanen sich nicht einigen können auf diese
Schriftsprache, d.i. ich würde sagen, zum Teil ein beschämendes
Kapitel, und die Fronten haben sich jetzt eher, in meinen Augen,
nicht enthärtet, sondern eher verhärtet. Und wenn Sie mich fragen,
dann ist das in meinen Augen die letzte Rettung. Wenn sich die
Rätoromanen jetzt nicht einigen, auf diese Schriftsprache - wenn Sie
die Entwicklung in Deutschland von früher her wissen, mit den
verschiedenen Dialekten, die konnten sich auch auf eine
Schriftsprache im Deutschen einigen, auch wenn es lang gedauert hat -
wenn sie sich also nicht einigen können, dann geht natürlich der
Zerfall noch rascher. Der Ball liegt eindeutig jetzt bei den
Rätoromanen selbst.
Autor: Eine
Einigung würde sich natürlich positiv auf den gesamten
Medienbereich auswirken. Statt fünf Mini-Blättchen könnte eine
Zeitschrift herauskommen, ein Projekt, an dem jahrelang schon
vergebens gewerkelt wird. Im Rundfunk könnte die Präsenz wesentlich
verstärkt werden, auch wenn sich dort in den vergangenen Jahren die
Situation einigermaßen verbessert hat. Doch im Fernsehen ist der
Anteil des Rätoromanischen immer noch verschwindend gering, obwohl
man weiß, wie verheerend der Einfluß gerade auf die kleinen Kinder
ist.
Ein
wesentlicher Faktor bei der Erosion der Sprache ist auch die
Landflucht und das bedeutet Flucht in die deutschen Städte, wo die
Rätoromanen überdurchschnittlich häufig einen fremdsprachigen
Ehepartner wählen. Als Grund für die Landflucht werden nicht nur
bessere Berufsaussichten angegeben, sondern sehr häufig auch die
geistige Enge ihrer Täler in religiöser, politischer und sozialer
Hinsicht. Annette Pietsch schildert die Situation so:
0-Ton: Das
ist ein Tal mit 1500 Einwohnern. Bis nach Chur hat man 200 km
Paßfahrt mit dem Auto, mit dem öffentlichen Verkehrsmittel hast du
4 Stunden Fahrzeit, nicht. Die nächste Stadt ist im Süden, Meran,
eine Stunde Auto. Und die Leute, was hat es, Intellektuelle hat es
ein oder zwei Ärzte, ein Veterinär und einen Pfarrer und fertig.
Ich möchte nicht mehr so leben.
Autor: Im
Vorderrheintal kommt ein undurchdringlicher Filz von Christlicher
Volks-Partei und katholischer Kirche hinzu - in Abgrenzung zu den
Protestanten ringsumher - der vielen Rätoromanen "einen kalten
Schauer über den Rücken jagt", so daß sie ihrer Heimat den
Rücken kehren.
Im
Fazit seines Buches schreibt Werner Catrina nach seinen über 300
Gesprächen mit Vertretern aller Volksschichten:
Zitator: Auffallend
ist heute bei vielen ein geschärftes
Bewußtsein
für den Wert und die Bedeutung der Muttersprache. Es beginnt manchem
Romanen aufzudämmern, daß es von
jedem einzelnen,
also auch von ihm selbst, abhängt, ob das Romanische lebt oder
nicht. Erst wenn sich dieser tausendfältige Wille wirklich lebendig
manifestiert, entsteht der nötige Druck, der die heute
erfolrderlichen Lebensbedingungen für die Kleinsprache zu schaffen
vermag. Unser politisches System bietet genügend Spielraum dafür.
Autor: Das
klingt nicht besonders überzeugend. Ein Trost mag sein: Das
Rätoromanische ist schon so oft totgesagt worden, daß es vielleicht
auch diesmal alle pessimistischen Einschätzungen überdauern wird.
Und vielleicht kehren ja die Rätoromanen auch zu dem
Selbstbewußtsein zurück, womit sie z.B. 25 Jahre lang - von 1900
bis 1925 - dem Autoverkehr trotzten. Indem sie an dem Autoverbot
wieder anknüpften, könnten sie neue Maßstäbe setzen und einen
alternativen Tourismus ermöglichen, der nicht nur mehr Rücksicht
auf die prekäre Lage der Natur nähme, sondern auch auf die prekäre
Lage der rätoromanischen Sprache.
MUSIK
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